Meine letzte Meile

Text: Natalie Achermann

Sprecherin: Muriel Roth

Meine letzte Meile

 

 

Meine letzte Meile

Jetzt ist es so weit. Es erscheint mir wie in einem Traum, einem schlechten Traum natürlich, als es durch den Saal hallt „Rondo Alla Turca, gespielt von Natalie Achermann.“ Die Stimme meines Klavierlehrers scheint wie aus einer anderen Welt zu mir durchzudringen und doch weiss ich, wir befinden uns in der selben Welt, nein, gar im selben Raum – und zwar in der bis zur hintersten Reihe gefüllten Aula der Primarschule Altenburg.

Es wird gespenstisch still, als der Lehrer sich wieder setzt und der Hall seiner Stimme verklingt. Ich stehe von meinem Platz in der letzten Reihe etwas zu geräuschvoll auf. Alle Augen richten sich auf mich. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Ich habe das Gefühl, dass mein leeres Schlucken genauso laut, wie zuvor die Stimme meines Lehrers durch den Saal hallt. In mir zieht sich alles zusammen. Das flaue Gefühl in der Magengegend ist unerträglich.

Der Gang zum Flügel erscheint mir eine Meile lang zu sein – und fühlt sich an, wie meine letzte Meile. Räuspern, leises Geflüster, Stühle werden zurechtgerückt, die Ungeduld breitet sich von Reihe zu Reihe langsam über das ganze Publikum aus – wie eine Welle. Wer kann es ihnen verübeln. Sie alle kamen, um den Vortrat ihres eigenen Kindes zu hören und doch müssen sie bis zuletzt ausharren – genau, ich bin die Letzte, der krönende Abschluss des Abends. Und ich spüre, wie diese Verantwortung schwer auf meinen Schultern lastet. Dabei sind meine Knie bereits weich genug. Nein, das hier geht über weiche Knie hinaus. Wie Butter, die an der gleissenden Sonne stehengelassen wurde oder Zuckerwatte, nur nicht ganz so klebrig. Ein Wunder also, dass sie mich überhaupt vorwärts tragen.

Willenlos schleppen meine Beine mich die Stufen zur Bühne hinauf, mechanisch legen meine Füssen die letzen Meter übers Parkett zurück bis zum Flügel und schicksalsergeben setzt sich mein Körper auf den Hocker. Dabei schreit alles in mir nach Flucht. Ich will den Hocker von mir Stossen, von der Bühne herunterspringen, den Gang in schnellen, langen Sprüngen hinter mir zurücklegen und der Aula, die für mich im Moment einem Gefängnis gleichkommt entfliehen… Doch ich kann nicht. Wie hypnotisiert starre ich auf die weissen und schwarzen Tasten des Flügels.

Noten habe ich keine dabei. Ich spiele immer ohne Noten. Doch dahinter verbirgt sich kein erstaunliches Talent, wie man auf den ersten Blick vielleicht meinen könnte. Viel mehr liegt der Grund dafür in meinen mangelnden Fähigkeiten im Notenlesen. Die vielen Punkte und Striche würden mir keine Hilfe sein, wenn ich während des Spielens den Faden verlieren würde. Meistens spielen meine Finger die richtigen Tasten wie von alleine, nachdem ich ein Stück ein paar Mal mühsam anhand der Noten entziffert habe. In meinem Kopf sehe ich die Bewegungen auf den Tasten genau vor mir. Es fällt mir dann auch nicht schwer Seite für Seite auswendig vorzutragen. Meine Hände finden die nötigen Tasten von alleine und ich kann mich auf die Betonung einzelner Noten und die gefühlvolle Verwendung des Pedals konzentrieren, um dem mechanischen Ablauf die nötige Emotion mitzuliefern. Alles in allem also ein ziemlich gefahrloses Unterfangen. Doch was passiert, wenn meine Finger die richtige Taste verfehlen? Einfach weiterspielen? Manchmal ja, da klappt das. Doch in den meisten Fällen bringt mich ein kleiner Fehler so sehr aus dem Konzept, dass mein ganzes Spiel ins Stocken gerät. Die richtigen Noten verschwinden aus meinem Kopf und meine Finger verharren hilflos in peinlicher Stille. Mein Lehrer zeigt mir dann immer, wo genau ich mich in diesem Moment auf dem Notenblatt befinde, doch mittlerweile weiss auch er, dass mir das kein bisschen hilft. Zu Konzerten bringe ich die Noten daher gar nicht erst mit. Mich machen sie eher nervös, als dass sie mir Halt bieten würden.

Ich höre ein Räuspern aus der ersten Reihe des Saals. Mein Lehrer tupft sich mit einem Taschentuch die Schweissperlen von der Stirn. Wahrscheinlich sieht auch er bereits meinen verpatzten Auftritt vor seinem geistigen Auge. Zumindest scheint er fast genauso nervös zu sein wie ich. Mit einer hektischen Handbewegung gibt er mir zu verstehen, dass ich endlich anfangen soll.

Ein letztes Mal prüfe ich alle Möglichkeiten, diesem Albtraum entkommen zu können. Einfach aufstehen, mich entschuldigen und den Abend frühzeitig für beendet erklären? Da hätten alle etwas davon… Oder dem Drang mich zu übergeben nachgeben und dann warten, bis alle angewidert den Saal verlassen? Auch eine durchaus denkbare Option. Doch egal wie ich es drehe und wende, eine Blamage wäre es jedes Mal. Der einzige Ausweg wäre ein fehlerfreier Vortrag von Mozart’s türkischem Marsch. Ich seufze und taste mich mit meinen Fingern zu der richtigen Anfangsstelle auf dem Flügel vor.

Als ich mein Spiel endlich beginne verstummen die von der Ungeduld geprägten Geräusche im Saal. Kein Stuhlrücken, kein Hüsteln oder Räuspern, kein Geflüster unterbricht den Klang dieses wunderbaren Instruments. Dennoch schaffe ich es nicht, das Publikum um mich herum auszublenden. Bei jedem gespielten Ton ist mir deren Anwesenheit bewusst. Hunderte von Ohren werden jeden kleinsten Fehler hören. Alle Augenpaare verfolgen die über die Tasten tanzenden Finger und belächeln wahrscheinlich meinen vor Anspannung verkrampften Gesichtsausdruck. Sicherlich kein anmutiger Anblick. Als würde es eine Rolle spielen, wie ich aussehe beim Klavier spielen. Nein, es ist völlig egal, schliesslich starrt auch nicht ein Saal voll von Menschen nur auf mich in diesem Moment.

So sehr versunken in meine Versagensängste, nehme ich mein Spiel kaum wahr und erschrecke fast schon ein wenig, als ich die letzten Züge des Stücks erreiche. Ich wog mich bereits in Sicherheit, als es passierte. Und das kurz vor dem grossen Finale. Meine Finger geraten ins Straucheln. Ich versuche das Tempo zu halten, doch ich finde nicht zurück zum richtigen Takt. Die Melodie in meinem Kopf stimmt nicht mehr mit der Bewegung meiner Finger überein. Eine Leere breitet sich unaufhaltsam in meinem Kopf aus. Und peng – ich verfehle die richtige Taste. Ein Klang so falsch, dass Wolfgang sich im Grab umdrehen würde dröhnt uns um die Schädel. Wie ich dann die übrigen Noten noch heil über die Bühne gebracht habe weiss ich nicht. Jetzt verklingt der letzte Ton des Flügels und völlige Stille kehrt ein. Nur für eine Sekunde. Doch für mich bricht in dieser Zeitspanne die Welt zusammen. Ich wage es nicht, in die enttäuschten Gesichter zu blicken. Bis der Saal plötzlich von tosendem Applaus überrumpelt wird. Ungläubig blicke ich in die Menge. Und was ich in ihren Augen sehe ist keine Enttäuschung, kein Wehmut, Nasenrümpfen oder gar Bemitleiden nur pure und ehrliche Begeisterung. Mit offenem Mund starr ich mein Publikum an – sie hatten den sündhaft falschen Ton nicht bemerkt.

Natalie Achermann (September 2011)

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